Johanna Rau
Geschichte der jüdischen Gemeinde Heubach
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Dieses Material ist ein Teil von Johanna Raus Artikel "Jüdische Gemeinde Heubach und die ehemalige Synagoge". Der andere Teil, wo es hauptsächlich um die Geschichte der Synagoge und ihres Wiederaufbaus geht, wird aus technischen Gründen zu einem späteren Zeitpunkt auf dieser Site veröffentlicht.
Manche Elemente, die auch auf dieser Seite noch fehlen (klickbare Grafiken etc.) werden in der Zukunft auch hinzugefügt.

Die ältesten Zeugnisse der Anwesenheit einzelner jüdischer Familien in Heubach sind ihre Grabsteine auf dem alten jüdischen Sammelfriedhof in Altengronau.

Der älteste Grabstein, der auf eine Person aus Heubach verweist, ist der Grabstein Nr. 133 auf dem Friedhof in Altengronau; auf ihm ist ein „Jehuda, Sohn des Joseph HaKohen aus Heubach, gest. am 5.9.1715“ verzeichnet.

Aus den Jahren zwischen 1715 und 1799 sind lediglich sieben Grabsteine erhalten. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass evt. nicht mehr alle Steine dieser Periode erhalten sind, verweist die geringe Anzahl auch auf die Vermutung, dass in jenen Jahren die Ansiedlung jüdischer Menschen starken Einschränkungen unterworfen war. Woher diese ersten jüdischen Bürger Heubachs kamen, ist unbekannt.

Aus den jüdischen Grabsteinen in Altengronau können wir entnehmen, dass in Heubach auch eine priesterliche und eine levitische Familie vertreten waren.

Auf den Grabsteinen kann man die Gräber der Kohanim (Priester) auch ohne hebräisch lesen zu können leicht erkennen: auf ihnen sind zwei Händepaare zu sehen, bei denen sich die beiden Daumen berühren,Zeige- und Mittelfinger darüber zu einem Dreieck zusammengelegt sind, denen gegenüber die zusammengelegten Ring- und kleinen Finger ein wenig abgespreizt sind. Diese Handhaltung ist die Haltung des priesterlichen Segens, den im Judentum nur die Priester zu sprechen befugt sind. Die levitischen Familien sind an dem Symbol einer Kanne zu erkennen, die sie als ehemalige Tempelbedienstete ausweist.

Während die ältesten Grabsteine lediglich die besondere Kennzeichnung als Angehörige einer Priester- oder Levitenfamilie kennt, tauchen zu Beginn des 19. Jahrhunderts die ersten Grabsteine mit Familiennamen auf. Aus ihnen geht hervor, dass die Kohanimfamilie den Namen „Katz“ annahm, die Levifamilie den Namen „Goldschmidt“ und die Familie, die keiner dieser beiden Stände angehörte, den Namen „Adler“. Aus den Synagogenbüchern, die im Hessischen Staatsarchiv in Marburg aufbewahrt werden und die etwa ins Jahr 1823 zurückgehen, geht hervor, dass die gesamte jüdische Heubacher Bevölkerung auf diese drei Familien zurückgeht.

Ältester Grabstein eines Verstorbenen aus Heubach: Jehuda, Sohn des Joseph HaKohen aus Heubach

Ein Grab mit beiden Symbolen: die Hände zum Priestersegen erhoben und eine Kanne für eine Levi-Familie

Das Friedhofshaus auf dem Friedhof Altengronau. Es diente zum Waschen und Herrichten der Verstorbenen

Ein Doppelgrab: „Mordechai, Sohn des David aus Heubach, gest. 1798 und seine Tochter Hindel Rebekka, gest. 1799“
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Zeit der Aufklärung

Im Anfang des 19. Jahrhunderts, nachdem unsere Gegend vorübergehend zum Königreich Westfalen gehörte, das im Folge der napoleonischen Gesetzgebung den Juden die vollen Bürgerrechte einräumte, wurden im darauf folgenden Kurfürstentum Hessen zwar viele der Freiheiten wieder zurückgenommen und nur stückweise mit der Zeit wieder gewährt, aber dennoch begann für das Judentum auch auf dem Lande eine neue Phase. Der Staat entdeckte diese Untertanen und beschloss, sie als Bürger einzugliedern und nicht wie bisher, sie einfach sich selber zu überlassen. Auf höherer Ebene drückt sich das im Gefolge der Aufklärung in den Bemühungen aus, auch die jüdische Jugend durch ein einheitlich geregeltes Schulsystem in das allgemeine bürgerliche Leben einzuordnen. Innerjüdisch führte das zu Auseinandersetzung zwischen einem liberaleren Flügel (dessen Vordenker und profiliertester Sprecher Moses Mendelssohn war), und einem eher traditionellerem Teil der jüdischen Bevölkerung, die befürchtete, auf diese Weise von nichtjüdischer Seite auch in ihrer Religionsausübung bevormundet zu werden.

Interessanterweise fällt der Bau der Synagoge in Heubach in die Zeit dieser Auseinandersetzungen und ihrer Wirkungsgeschichte auch auf dem Lande (1843). Wir können also davon ausgehen, dass sich bis in die ländlichen Strukturen hinein die neue rechtliche Situation der Juden auswirkte und ihnen die Möglichkeit gab, ihr Leben auf eine Weise gestalterisch in die Hand zu nehmen, wie es ihnen vorher nicht möglich war.


„Lavater und Lessing bei Mendelssohn“ von Moritz Oppenheim
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Der Bau der Synagoge in Heubach

Aus den Quellen sehen wir, dass zunächst einfach nur der Zustand eines schlecht eingerichteten „Betzimmerchens“ über einem Kuhstall der Anlass war, eine neue Lösung zu finden.

„Die Synagoge zu Heubach ist, wie ich erst kürzlich mich zu überzeugen Gelegenheit hatte, in einem so schlechten Zustande, daß es als eine wahre Entwürdigung des Gottesdienstes erscheint, ein solches Local, das mehr einem Stalle als einem Zimmer gleicht, für ein Bethaus zu gebrauchen. Um nur eine Beschaffenheit dieser Synagoge namhaft zu machen, erlaube ich mir zu bemerken, daß unter derselben sich ein Viehstall befindet, aus welchem die Stimme der darin befindlichen Kuh so stark herauftönt, daß der Vorsänger sehr häufig unterbrochen und überstimmt werden muß.“
(Antrag des Provinzial-Rabbiners Felsenstein zu Hanau vom 29. 07. 1839 an das Kurfürstliche Kreis-Amt. Aus: Bestand 180 LA Schlüchtern, Nr. 449, Hessisches Staatsarchiv Marburg)

Bezeichnend ist aber, dass sich die Gemeinde zum Ziel setzte, ein für diese Zeit großes und repräsentatives, sogar modernes Haus in Angriff zu nehmen. Nachdem als Baustelle das Grundstück der ehemaligen Zehntscheune erworben war, wurde der Neubau in Angriff genommen. Nicht anders als heute wurde auch damals mit Eigenleistung gerechnet und wie heute kam es auch damals zu Auseinandersetzungen. So erfahren wir aus den Quellen zur Baugeschichte von Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinde; einige waren nicht willig, ihre geforderte Leistung einzubringen. So berichtet der Synagogen Älteste Simon Goldschmidt am 13.1.1844 an das Kurfürstliche Kreisamt:

"… Bis zur Ausfüllung der Synagoge den 18. Dezember 1843 wurde die Israelitische Synagogengemeinde einjeder pörsenlich aufgefordert zur Ausfüllung der Synagoge. Welche zwar keiner unterlies den Befehl zu respecktiren. Aus gesetzten wiederfremten wiedersetzte sich dieses der Mordchai Adler, währent der Dienstgeschäfte bei der ganze Gemeinde sachte derselbe ich hätte im nichts zu befehlen …"
(aus: Bestand 180 LA Schlüchtern, Nr. 449, Hessisches Staatsarchiv Marburg)

Im Großen und Ganzen ging der Bau aber schnell vonstatten. Aus den "Akkorden" (Ausschreibungen) geht hervor, dass der Bau von christlichen Handwerkern aus der Umgebung ausgeführt wurde - im Grunde eine Selbstverständlichkeit und doch wichtig zu erinnern.

In der Heubacher Synagoge zeigt sich in diesem Sinne keine "jüdische Architektur"; in dem Gebäude und seiner Ausführung, vermutlich auch in seiner Einrichtung, von der leider nichts mehr vorhanden ist, spiegeln sich selbstverständlich die ganz allgemeinen Trends und Vorlieben der Zeit, sie verbinden auch auf dem Dorf Juden und Nichtjuden. Und dennoch weist dieses Gebäude natürlich wertvolle Besonderheiten auf, die mit der spezifisch jüdischen Nutzung zusammenhängen.

Da seien genannt: zum einen die beiden Eingänge. Während der rechte den Männern vorbehalten war, die auf diese Weise durch den Vorraum den Betsaal der Synagoge betreten konnten, war der linke für die Frauen vorgesehen, die über eine kleine Treppe an der Lehrerwohnung und dem Schulraum vorbei die Frauenempore erreichten.

Ursprünglich war dieser Bereich wohl abgetrennt, darauf weisen noch Reste der Deckenbemalung hin, die auf eine solche Trennung bis zur Decke Bezug nehmen. Vielleicht können wir uns diese Balustrade ähnlich wie die Holzgitter in der Heubacher Kirche vorstellen, die die kleinen Kämmerchen hinter dem Altar abtrennen.

Es mag sein, dass schon in einer späteren Nutzungsphase diese Gitterbalustrade abgebrochen wurde, sodass lediglich die Emporenbrüstung erhalten blieb. Leider sind wir hier auf Spekulation angewiesen, da wir weder erhaltenes Material noch Bilder zur Verfügung haben.

Ursprünglich gab es im Erdgeschoss keine Verbindung zwischen dem linken und dem rechten Gebäudeteil.

Heubach. Synagoge. Eingang

Die beiden Eingänge: der rechte war den Männern vorbehalten, durch die linke Tür gelangten die Frauen über eine Treppe auf die Frauenempore des Betsaales

Heubach. Synagoge. Frauenempöre

Die Deckenmalerei in der Frauenempore nimmt auf die Empore Bezug. Das weist darauf hin, dass sie wohl ursprünglich vom Hauptsaal getrennt war.
Heubach.Haus Schustesch
Heubach, Haus-Nr. 17 "Schustesch" (Heute: Friedensstraße 14). In diesem Haus befand sich (in der unteren Hälfte) der erste genannte Betsaal


Aus dem bauhistorischen Gutachten von Dr. H.-H. Reck
Aus dem bauhistorischen Gutachten
von Dr. H.-H. Reck


Heubach. Synagoge. Schablonenmalerei

Heubach. Synagoge. Schablonenmalerei
Die Schablonenmalerei und die Motive (Blumen und Ornamente) entsprechen dem, was auch in christlichen Häusern dieser Zeit modern war.
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Mikwe

Eine weitere Besonderheit ist natürlich die Mikwe, das rituelle Tauchbad, über dessen Entdeckung und relativ gut erhaltenen Zustand wir besonders froh sind.

Das Tauchbad war für die damaligen orthodoxen Gemeinden die wichtigste Einrichtung ihrer Gemeinde, noch vor der Einrichtung eines Betsaales. Es dient der Wiederherstellung kultischer Reinheit, in ihm werden Menschen und Gegenstände untergetaucht, um sie für bestimmte Aufgaben (wieder) "tauglich" zu machen (so der entsprechende Begriff). Das können Gegenstände wir Töpfe und Geschirr sein, die z.B. für den Gebrauch an Pessach (den Ostertagen) "gekaschert" werden, aber auch Männer reinigen sich zum Beispiel nach der Herrichtung und Beerdigung eines Verstorbenen. Besonders wichtig ist das Bad aber für das jüdische Familienleben. Dieses kann nach der Zeit der Menstruation erst wieder aufgenommen werden, wenn die Frau nach Ablauf der "sieben weißen Tagen" (Tagen ohne Menstruationsblut) die Mikwe besucht hat.

Ebenso auch nach dem Ablauf von 40 bzw. 80 Tagen nach der Geburt eines Kindes. Da die Frauen also die regelmäßigsten Besucherinnen der Mikwe waren, wurde das Bad auch schlicht "Frauenbad" genannt.

Es muss nach bestimmten halachischen (religionsgesetzlichen) Bestimmungen angelegt werden und benötigt entweder Quell- oder Regenwasser. Die Mikwe in Heubach ist eine Regenwassermikwe, deren Wasser offensichtlich in einer Zisterne innerhalb des Raumes gesammelt wurde. Dass die Heubacher Juden "modern" waren, erkennen wir an der Anlage einer Heizung für das Mikwenwasser. In Heubach konnte also von Beginn an das Wasser erwärmt werden. Ein Hinweis auf die große Bedeutung ergibt sich auch daraus, dass ihr ein eigener Raum, und zwar direkt neben der Küche des Lehrers reserviert war.

Offensichtlich war sie, soweit sie nicht gebraucht wurde, abgedeckt, aber ihre Anwesenheit im Nebenzimmer sowohl der eigentlichen Lehrerwohnung wie dessen Küche verweist auf die außerordentliche Bedeutung, die sie für das Leben der Bevölkerung - und für die Lehrerfamilie spielte. Denn die Frau des Lehrers war vermutlich diejenige Person, die den Frauen behilflich war und die die korrekte Durchführung bezeugen musste. So war das Leben dieser Familie aufs Engste mit dem Leben der jüdischen Bevölkerung verknüpft.

Von der Reinigung der Kindbettnerinnen, Kupferstich von J.C. Müller

Von der Reinigung der Kindbettnerinnen, Kupferstich von J.C. Müller

Het bad der hoogduitsche jooden te Amsterdam (Das Bad der deutschen Juden in Amsterdam)

Het bad der hoogduitsche jooden te Amsterdam (Das Bad der deutschen Juden in Amsterdam)"
Heubach.Synagoge.Mikwe
Heubach.Synagoge.Mikwe.
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Der Lehrer
und das Lehreramt

Der Lehrer hatte in der Gemeinschaft verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Zunächst war es seine Aufgabe, die Kinder zu unterrichten. Zunächst war die Schule in Heubach eine vollständige Grundschule für jüdische Kinder, wobei wir insgesamt von bis zu etwa 18 - 20 Kindern ausgehen müssen. Später (leider ist der Zeitpunkt nicht genau festzustellen, siehe auch weiter unten), gingen auch die jüdischen Kinder in die christliche Dorfschule und wurden lediglich noch in Religion in der Synagoge unterrichtet.

Stellenausschreibung von 1921, S. 1

Stellenausschreibung von 1921, Seite 1.

Stellenausschreibung von 1921, S. 2

Stellenausschreibung von 1921, Seite 2."

Uns liegen Visitationsberichte aus den letzten Jahren des 19. und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts vor.

Visitationsbericht 1888, S. 1

Visitationsbericht 1888, Seite 1

Visitationsbericht 1888, S. 2

Visitationsbericht 1888, Seite 2.

Visitationsbericht 1895, S. 1

Visitationsbericht 1895, Seite 1

Visitationsbericht 1895, S. 2

Visitationsbericht 1895, Seite 2.

Offensichtlich handelte es sich beim Unterricht vor allem um Unterricht in der jüdischen Bibel.

Von einer Ausbildung in Talmud ist mir bisher nichts bekannt. Aus der Zeit bis 1866 gab es vorgeschriebene Lehrbücher für den Unterricht. Ein solches Lehrbuch haben wir vorliegen, ich persönlich bezweifle aber, ob es sich zum Unterricht in einer Dorfschule geeignet hat - dafür scheint es mir doch zu "städtisch".

Zu den weiteren Aufgaben des Lehrers gehörte auch das Vorbeten in der Synagoge. Von Jakob Rothschild, dem vorletzten Lehrer aus Heubach, der hier sehr lange tätig war, wissen wir, dass er auch als Schächter (ritueller Schlächter) tätig war. Es mag aber auch sein, dass er lediglich die Fleischbeschau wahrnahm.

/Stellenausschreibung Fulda 1841
Stellenausschreibung im Wochenblatt für die Provinz Fulda vom 30. Oktober 1841


Moses Büdingers Schulbuch
Schulbuch von Moses Büdinger.
Dieses Buch wurde 1843 auch für die Schule in Heubach angeschafft.


Aus dem Schulbuch, §15
Aus dem Schulbuch, §15 über die Allwissenheit Gottes.
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Quellen

Leider haben wir zum Leben der jüdischen Gemeinde im 19. Jahrhundert als sichere Quellen lediglich die bereits oben erwähnten Synagogenbücher mit den Geburts, -Hochzeits- und Todesangaben, die sich dann ab 1874 in den Standesamtsbüchern der Gemeinde Kalbach fortsetzen.

Aus ihnen können wir dennoch einige Dinge ablesen. Zum einen stellen wir bei der Namensgebung um die Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt die Wahl "eingedeutschter" Vornamen fest.

Ein weit verbreiteter Name war zum Beispiel der Vorname Löb (vermutlich auch von Levi). Dafür finden wir ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eher die Form Leopold. In ähnlicher Weise wird aus Mordechai Markus oder Moritz, aus Baruch ("der Gesegnete") Benedikt. Bei Frauen ist ein sehr beliebter Name Edel oder Adel, daraus wird später häufig Adelheit. Aus Schöne wird Schanett, aus Bela Paula, aus Mahle Malli usw.

Da auf den Grabsteinen in Altengronau häufig die hebräische Form des Namens verwandt wird, kann man diese Wandlung sehr deutlich verfolgen.

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Familiendynamik, Auswanderung

Heiratsregister 1873, S. 1

Aus den Synagogenbüchern:
Heiratsregister von 1873, S. 1

Heiratsregister 1873, S. 2

Aus den Synagogenbüchern:
Heiratsregister von 1873, S. 2

Das 19. Jahrhundert ist auch die Zeit des starken Bevölkerungswachstums der jüdischen Bevölkerung. Insbesondere die Familien Adler und Goldschmidt wachsen stark an, manchmal auch durch eine notwendige zweite Heirat des Mannes, wenn seine erste Frau jung starb und Kinder zu versorgen waren.

Aus der Partnerwahl kann man entnehmen, dass die Beziehungen der jüdischen Gemeinden auf der einen Seite bis ins Bayrische gingen (eine relativ große Anzahl "eingeheirateter Frauen" kam aus Völkersleier bei Hammelburg), aber auch Richtung Norden nach Rhina (des einzigen Dorfes Hessens, das vor dem 2. Weltkrieg eine jüdische Bevölkerungsmehrheit hatte) und nach Oberzell und Sterbfritz. Interessant ist, dass zumindest in Heubach kaum Verbindungen ehelicher Art nach Uttrichshausen bestanden.

Während die Familie Adler nahezu vollständig in Heubach wohnen blieb, gab es immer auch wieder Zweige der Familie Goldschmidt, die entweder ins Schlüchterner Land verzogen oder auch nach Amerika auswanderten.

Das allerdings tat auch ein Zweig der Familie Adler. Einer dieser Auswanderer, Bernhard Adler, gründete später in Kansas City einen der zur damaligen Zeit berühmtesten Salons für Hutmoden und reiste einmal jährlich nach Paris, um auf der dortigen Messe die neuesten Trends nach Amerika zu importieren.

Dies war aber nicht die Regel! Wenn es auch einige wohlhabende jüdische Familien gab, so gab es auch etliche Familien, die sich mit Kleinwarenhandel und dem mühsamen Geschäft des "Überlandverkaufs" von Tonwaren etc. über Wasser hielten.

Amerika-Auswanderer
Liste der Amerikaauswanderer

Bernhard Adlers Hutmodesalon  auf der 1212 Main Street in Kansas City
Bernhard Adlers Hutmodesalon auf der 1212 Main Street in Kansas City
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Die Selbstverständlichkeit des Zusammenlebens

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdecken wir einen weiteren Schritt in die Selbstverständlichkeit des Zusammenlebens.

Kriegerverein_Heubach 1899

Fahnenweihe des Kriegervereins Heubach im Jahre 1899.
Simon Goldschmidt: oberste Reihe vierter von rechts.
Isaak Adler: zweitoberste reihe, vierter von links.

Auf dem Bild der Fahnenweihe des Kriegervereins Heubach im Jahre 1899 entdecken wir den späteren Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Simon Goldschmidt, sowie Isaak Adler. Dieses Bild belegt, genau wie andere Quellen der Zeit, die selbstverständliche Einordnung der Deutschen "mosaischen Glaubens" in die nationalen Zusammenhänge.

Belegt wird dies auch durch die Namenwahl dieser Jahre: Wilhelm, Siegfried, Gertrud - "typisch deutsche" Namen, die zeigen, wie selbstverständlich sich die jüdischen Bürger als deutsch empfanden.

Selbstverständlich zogen auch jüdische Männer in den ersten Weltkrieg und aus der Familie des Benedikt Adler aus Hausnr. 11 ½ fiel am 20.4. 1917 Jakob Adler im Alter von 33 Jahren.

Die Kirchenchronik schreibt: "Vom Spätjahr 1916 ab wurden Zwecks besserer Beschulung der Kinder die evang. und israel.. Schule zu Heubach zusammengelegt. Die israelitische Schule hatte nur noch 8 Schüler, und so konnte sich Lehrer Rothschild mit Lehrer Euler gut den Unterricht an der evang. Schule teilen; nur der Religionsunterricht wurde in der alten Weise getrennt gegeben."

Laut dieser Chronik ergab eine am 5. Dezember 1917 vorgenommene Volkszählung 49 "israelitische Personen" (zum Vergleich: zum gleichen Zeitpunkt waren 13 katholische Personen in Heubach ansässig, 563 waren evangelisch.)

Dies stellt bereits gegenüber dem Höhepunkt der jüdischen Bevölkerung um 1890 (97 Personen) einen deutlichen Bevölkerungsrückgang dar.

In der Tat verziehen von Anfang des 20. Jahrhunderts bis etwa 1924 etliche der jüdischen Familien nach Fulda. Wie mir von einem Nachfahren dieser Familien mitgeteilt wurde, lag dies in der besseren jüdischen Infrastruktur in der Stadt zusammen (größere Synagoge, jüdische Oberschule, vielfältigeres Gemeindeleben) und vermutlich überhaupt mit der größeren Attraktivität des Stadtlebens begründet. Durch berufsbedingte Kontakte gab es zwar immer noch auch Verbindung zwischen Heubach und Fulda, aber in einem wesentlich geringeren Ausmaß.

Zum Zusammenleben zwischen christlicher und jüdischer Bevölkerung vor dem zweiten Weltkrieg möchte ich noch die Tatsache erwähnen, dass auch die jüdische Bevölkerung an der Einrichtung einer (evangelischen!) Gemeindeschwesterstelle beteiligt war, die in der Kinderpflege und Krankenbetreuung tätig war. In den Kindergarten, der im Haus gegenüber der Synagoge war, gingen auch jüdische Kinder.

Aus der Kirchenchronik: "Die kirchliche Einführung der Schwester geschah am 1. Sonntag im Juli im Gemeindegottesdienst, zu welchem die Gemeinde, auch Juden, zahlreich versammelt war, (…). (…) Es ist zudem nach meinen Erfahrungen besser, wenn die Gemeinde eine Instanz am Ort hat, die für ihre Wünsche u. Beschwerden auch gleich Anordnungen treffen kann, nämlich den Bürgermeister. Zudem war das jüdische Element, das in Heubach stark vertreten ist, zu berücksichtigen, das der Sache sympathisch gegenüber steht (auch mit Mitteln), wenn sie eine Einrichtung der politischen Gemeinde ist, gleichwohl ist der evangelische Charakter der Pflegestation und der Unterricht u. die Kleinkinderpflege, die auch von den Kindern der Juden besucht ist, im evangelischem kirchlichen Geiste gewährleistet, wenn der Pfarrer sich darum kümmert."

Kindergarten im Jahr 1914

Kindergarten im Jahr 1914: oberste Reihe, zweite von links: Malli Goldschmidt, vierter von links: Julius Katz, unterste Reihe: sechste von links: Gertrud Katz

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Nach dem 1. Weltkrieg

Nach dem ersten Weltkrieg gab es wieder eine einige Familien, die aus Heubach verzogen, wie auch einzelne Personen, die wegen Heirat oder Berufssuche verzogen: nach Bergen Enkheim, nach Frankfurt, Schlüchtern, Dortmund, Berlin - und auch wieder nach Fulda.

Im Jahr 1924 wurde die jüdische Schule geschlossen. Nachdem Lehrer Rothschild in Ruhestand gegangen war, gab es noch einmal für kurze Zeit einen Lehrer aus Polen, der der Gemeinde aber gar nicht gefiel. Da nur noch wenige Kinder da waren, beantragten am 10. Oktober 1923 Simon Goldschmidt, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Leopold Adler II, Simon Katz und Hermann Adler beim Kreisschulrat von Gersfeld die Auflösung der jüdischen Schule.

Antrag zur Schulaufhebung, S. 1

Antrag zur Schulaufhebung, S. 1

Antrag zur Schulaufhebung, S. 2

Antrag zur Schulaufhebung, S. 2

Nach dieser Zeit wurde die Lehrerwohnung laut mündlichen Berichten an den christlichen Lehrer vermietet. Es kann sein, dass schon zu dieser Zeit die Mikwe abgebrochen und der Raum neben der Küche zum Wohnraum umfunktioniert wurde. Falls das so gewesen sein sollte, würde es bedeuten, dass sich die jüdische Bevölkerung nicht mehr streng an die religionsgesetzlichen Vorschriften gehalten hätte bzw. keine Möglichkeit sah, die Mikwe in der gewohnten Weise als Teil einer nunmehr christlichen Lehrerwohnung in Anspruch zu nehmen.

In Heubach lebten zu Beginn des Nationalsozialismus 1933 noch etwa 5 jüdische Familien, bzw. Haushalte: sicherlich die Familie des Vorsteher Simon Goldschmidt mit seiner Frau Selma, geb. Guttmann mit den (erwachsenen) Kindern Emil und Malli, Hermann Adler mit Frau Helene, geb. Mansbach mit den (erwachsenen) Kindern Ruda (Rita) und Salli, die beiden älteren unverheirateten Schwestern Zerline und Jeanette Stern mit ihrer Schwester, der Witwe Sophie Kahn mit deren Tochter Bella sowie die Schwägerin der drei, Regine Stern, geb. Grünebaum, weiter Leopold Adler II mit Ehefrau Anna oder Amalie, geb. Klebe mit Sohn Joseph.

Wie auch der Schrieb anlässlich der Schulauflösung belegt, scheint es sich durchweg um Familien oder Personen gehandelt zu haben, die sich entweder fest im Ort Heubach verwurzelt wussten und dort auch gemeindliche Aufgaben übernommen hatten oder im Falle der Frauen ihr bescheidenes, aber festes Auskommen hatten (Sophie Kahn betrieb einen kleinen Laden) und unterstützte ihre beiden unverheirateten Schwestern und ihre verwitwete Schwägerin.

Simon Goldschmidts Tochter Malli sehen wir 1930 auf einem Bild in der "Strickstube" in der Stube des Lehrers Willi Meister im Schulhaus gegenüber ihrem Elternhaus.

Ihr Bruder Emil ist zur gleichen Zeit in der Fußballmannschaft des TSV Heubach zu sehen, mit ihm spielt im gleichen Verein auch Joseph Adler.

All diese Menschen sahen keinerlei Veranlassung, ihr Leben in Heubach aufzugeben, wenn sich auch die jüngere Generation aus Berufsgründen außerhalb von Heubach orientierte. So machte Malli Goldschmidt eine Hebammenausbildung in Frankfurt, Emil Goldschmidt wollte Gärtner werden, Salli Goldschmidt machte eine Ausbildung in Fulda und Ruda Adler verheiratete sich nach den Niederlanden.

LeopoldAdlers Pass
Pass von Leopold Adler
Fußballmannschaft des TSV Heubach von 1928
Die Fußballmannschaft des TSV Heubach von 1928:
Joseph Adler, obere Reihe, dritter von links

Fußballmannschaft des TSV Heubach von 1930
Die Fußballmannschaft des TSV Heubach von 1930:
Emil Goldschmidt: zweite Reihe ganz rechts, Joseph Adler: unterste Reihe ganz links
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Nazionalsozialismus

1937 verkauft Simon Goldschmidt im Auftrag der jüdischen Gemeinde Frankfurt die Synagoge an die Gemeinde Heubach. Es wird ihm zugesichert, das Gebäude "würdig" zu verwenden. Indem es zum Bürgermeisteramt wird, bleibt zumindest dem Gebäude die Zerstörung erspart, und es bleibt ein öffentliches Gebäude.

Nach Aussagen von Moritz Goldschmidt, dem Schwiegersohn des Synagogenvorstehers wurden die Einrichtungsgegenstände der Synagoge nach Schlüchtern gebracht. Dort wurden sie in der Pogromnacht am 9. November 1938 zerstört.

Simon Goldschmidt und seine Frau Selma verziehen, genau wie Hermann Adler und seine Frau Helene, nach Fulda.

Aus dem Einwohnermeldebogen geht auch hervor, dass Simon Goldschmidt wie viele andere jüdische Männer nach dem Novemberpogrom von 1938 "in Schutzhaft genommen" wurde: d.h., er wurde nach Buchenwald verschleppt und dort inhaftiert.

Zur gleichen Zeit wie Familie Goldschmidt nach Fulda verzogen die Geschwister Stern mit Schwägerin nach Frankfurt. Während Tochter Bella die Flucht nach England gelang, wurde Regina Stern, geb. Grünebaum, am 22. November 1941 im Alter von 63 Jahren nach Riga verschleppt und im Lager Kowno ermordet, Zerline Stern wurde am 18. August 1942 im Alter von 73 Jahren nach Theresienstadt verschleppt und vermutlich in Treblinka ermordet, die Mutter Bellas, Sophie Kahn wurde im Alter von 68 Jahren zusammen mit ihrer 75jährigen Schwester Jeanette Stern am 15. September 1942 nach Theresienstadt verschleppt. Dort starben die Schwestern vier bzw. sieben Monate später.

Quelle: Jüdisches Museum, Frankfurt 1996-2004,
Texte: zeitsprung. Kontor für Geschichte, Frankfurt am Main.

Am 19.05.1941 erreicht Simon Goldschmidt von seinem Schwiegersohn eine Rotkreuzkarte aus "Tel Aviv Palestine" (mit dem Vermerk "nicht über 25 Worte, nur persönliche Familiennachrichten): "Liebe Eltern, hoffentlich seid ihr gesund, wir sind es auch und zufrieden. Emil heiratete nett, wir wohnen zusammen. Schreibt bald! Gott schütze Euch und uns! Moritz, Malli Emil Hasicha"

Am 30. Juli 1941 antwortet Simon Goldschmidt:
"Liebe Kinder und Geschwister
hocherfreut über Nachricht vom 19. Mai. Emil & Frau herzliche Glückwünsche.
Uns allen geht's gut, wir sind gesund
Eltern und Geschwister
Fulda, den 30. Juli 1941
Unterschrift: Simon Goldschmidt.
"

Am 31. Mai 1942 werden Simon und Selma Goldschmidt im Alter von 66 und 62 Jahren "nach dem Osten abgeschoben" (d.h.: deportiert).

Laut dem "Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945" sterben sie in Zamosc.

Hermann Adler und seine Frau werden von Fulda aus über Kassel am 27. August 1942 im Alter von 67 und 66 Jahren nach Theresienstadt deportiert. Hermann Adler stirbt in Thersienstadt am 23.05.1943. Helene Adler stirbt dort am 30. März 1944 im Alter von 67 Jahren.

Die Liste der Einwohner Heubachs, die in der Schoah umgebracht wurden.

Nach dem Krieg sind vereinzelt Nachkommen Heubacher Juden noch einmal nach Heubach zurückgekehrt. Ein Briefwechsel mit Malli Goldschmidt existierte bis in die 70er Jahre.

Die ehemalige Synagoge blieb, nachdem sie im Nationalsozialismus zum Bürgermeisteramt geworden war, auch nach dem Krieg das Rathaus.

Keinerlei Einrichtungsgegenstände, die auf die Synagogennutzung hinweisen, sind mehr erhalten. Umso wichtiger ist es, dass die baulichen Veränderungen, die nach dem Verkauf 1937 durchgeführt wurden, den ursprünglichen Bestand relativ großzügig erhielten. So wurden Lamperien aus der Synagogenzeit erhalten, wenn auch an anderem Ort wieder eingebaut, der ursprüngliche Sandsteinbodenbelag im Betraum blieb erhalten (sogar mit dem Schmutzabdruck des Vorbeterpultes), die großen Fenster wurden lediglich vermauert, in den großen Raum wurde eine Zwischendecke eingezogen, die relativ leicht wieder entfernt werden konnte, sogar sämtliche Farbfassungen blieben unter den später angebrachten Tapeten erhalten.

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